Ursula Krechel "Geisterbahn"

Ein Donnerstag voller Organisationspsychologie schreit nach anspruchsvollerer Abendgestaltung, am 27.09.2018 hilft das Literaturhaus am Inn, das ab 19.00h eine Lesung und Gespräch mit Ursula Krechel (bzw. Jochen Jung) zu ihrem neuen Buch "Geisterbahn" veranstaltet hat.

Magistra Gabriele Wild begrüßt die zahlreichen Besucher und begrüßt den Beginn des "literarischen Herbstes". Sie stellt die Autorin vor, die sich besonders durch intensive Recherche abheben und mit ihren Romanen sehr lebendige Bilder erzeugen würde. "Geisterbahn" sei der dritte Teil einer Triologie. Mag.a Wild stellt auch Jochen Jung vor, Verleger des Buches und Vertrauter des Werkes, mit ihm wird Ursula Krechel später das Gespräch führen, vorher liest sie aus "Geisterstunde".

Mit angenehm ruhiger und neutraler Stimme liest sie zuerst vom Anfang, "Drehschwindel" und weist präventiv darauf hin, dass sie in sehr vielen, eng verwobenen Strängen geschrieben hat, und um für die Lesung bei einem Strang zu bleiben, manchmal blätter werden müsse. Es geht um eine Sinti-Familie (Familie Dorn) 1936. Es passiert nicht wirklich viel, aber die Beschreibung der Alltagswahrnehmung aus Sicht der älteren Kinder und später der Eltern ist sehr reich an Eindrücken, die gut in eigenes Bild transformiert werden können. Da sind Bilder an Familienverbundenheit, von einem Karussel (die Familie betreibt Jahrmärkte) und gemeinsame Arbeit. Eindrücklich waren die Beschreibungen, wie die Kinder in der Schule behandelt wurden, und wie es für den Beschreibenden einfach Wichtigeres gibt oder es Anderes gibt, das stärker ist, wie die Vorbildfunktion für jüngere Geschwister, sodass die wiederholt diskriminierenden Erlebnisse für den Moment nicht dominieren, sondern "einfach" Alltag sind, wie eine lästige Arbeit, die verrichtet werden muss, aber nicht weiter ins Gewicht fällt. Weitere Bilder von der Behörde, die Kinder wegnehmen will, von der liebevollen Sexualität der Eltern, vom Jahrmarktsgeschäft. Die Leserin unterbricht und erzählt noch kurz, wie es mit der Familie weitergeht, bzw. wie Vater und Onkel anlässlich der Olympiade von der Straße gebracht wird, die erste "Abschiebung", von der zweiten Deportation und (un) geborenen Kindern.

Ursula Krechel erklärt einige Dinge für den zweiten Teil: Die Geschichten aus "Geisterbahn" spielen in Trier, ihrer Heimatstadt. Während der Recherche zu Widerstand in Trier fand sie statt standhaften Nonnen eine ganze Reihe junger Kommunisten, was sie angesichts des dominanten Bürgertums und Katholizismus der Stadt verwunderte. Der zweite Teil der Lesung spielt etwa zur selben Zeit, November 1936, dieses Mal geht es um diese junge Kommunisten anhand der Familie Thorgau. Dieses mal "passiert" mehr, aber nur hintergründig. Aus Sicht verschiedener Familienmitglieder, die alle mit dem Kommunismus verbandelt sind, werden verschiedene Szenen und Überlegungen gezeichnet: Wie sie kommunistische Zeitungen unter die Arbeiter bringen versuchen, die Gefahren, denen die kommunistische Jugend ausgesetzt sind, und wie sie trotzdem nicht flüchten dürfen, wie ihre Zukunft und die Zukunft der Partei ausschaut, der Traum von der Sowjetunion. Ein großer Teil der Zeit ging auf Abschnitte um und aus dem Gefängnis. Während viele dieser Szenen "nebenher" und schnell, fast isoliert nebeneinanderstehen kommt ein intensiver Abschnitt zur Arbeit im Frauengefängnis, ein sehr emotionaler und grausiger Abschnitt, Ursula Krechel wiederholt in Schrift und Stimme die Angstschreie von Gänsen, die am lebendigen Leibe vierteljährlich gerupft werden, immer wieder und endet die Lesung mit den abgewiesenen Gnadengesuchen und erzählt noch, dass die junge Frau mit anderen Frauen nach Auschwitz deportiert wird. Damit setzt sich Jochen Jung zu ihr auf die Bühne und das Gespräch zwischen ihm und Urusla Krechel beginnt.



Jochen Jung begrüßt das Publikum und spricht nach einigen Komplimenten an Ursula Krechel gleich von seiner Wahrnehmung, dass der historische Roman auf dem Buchmarkt einen Aufschwung erlebe, der aber mehr zur Gegenwart parallelisiere und belehre, was Ursula Krechel nicht tut, sie schreibe einfach lebendig, was alles an Schrecklichkeit möglich ist, und das beeindruckt ihn.

Er fragt sie, ob / wie autobiographische Züge Teil der Geschichten sind, sie kenne ja auch einige der Figuren. Ursula Krechel korrigiert, sie kennt die Figuren nicht aber es gibt Konstellationen, mehrfach, wie die Verwandschaft einer ihrer früherer Mitschülerinnen mit einer Familie, die Teil der Geschichte wurde. Sie sei wenig daran interessiert, viel zu konstruieren.

Das Gespräch verläuft recht locker, es kommt weiter zur Spache, dass die drei Romane (Shanghai fern von wo, Landgericht, Geisterbahn) nicht so geplant waren, sondern mehr Ergebnis umfassender Forschung und Mangel an alternativen geeigneten Ausdruckformen; dass Essays und Gedichte, wie das Heidelberger Zentrum für Sinti und Roma für die Vorbereitung wichtig waren. Jochen Jung spricht davon, dass es mit dem Roman ja nicht nur um die Nazizeit geht, sondern auch um die Aufarbeitung oder Nicht-Aufarbeitung danach und fragt, was man vom Leser an Vorwissen erwarten kann, Ursula Krechl sagt, sie versucht die Figuren dem Leser sehr nah zu schreiben, sie selbst hat mit den Figuren gelebt. Es geht auch um die Arbeit an "Landgericht", um Vergangenheitsbewältigung und wie Ursula Krechl das früher mitbekommen hat - als ziemlich mitleidslos, was sich auch im Buch widerspiegelt - und um Bedeutung außerhalb Deutschlands.

Abschließend kommen noch ein paar Fragen aus dem Publikum: Was der Titel bedeutet, so Ursula Krechel, es geht ja viel um Jahrmarkt und ein Mädchen frage, ob sie nicht auch eine Geisterbahn hätten und der Vater, der Hauptbetreiber, antwortet, ob sie denn nicht schon genug Geister hätten. Die Bewältigungsproblematik hängt nicht nur mit dem Katholizismus zusammen wird die zweite Frage beantwortet, abschließend noch eine dritte, mehr ein Statement, dass Sinti und Roma in der Anerkennungspolitik sehr vernachlässigt wurden, am Beispiel von Hermann Höllenreiner. Ursula Krechel erklärt sich warum er und andere Individuen keine oder nur eine kleine Rolle für sie bzw. für das Buch spielen.

Damit kommt der Abschluss des Abends und wir werden von Magistra Wild mit Hinweisen auf andere Veranstaltungen und Bitte um einen Umtrunk und Gesellschaft verabschiedet.

Nachtrag: Auf der Suche nach einer deutschen Literaturgeschichte als eBook findet man das Werk von Wolfgang Beutin, bei dem Ursula Krechel namhaft in der Beschreibung neben Hertha Müller angeführt wird. Ich glaube, dass "Geisterbahn" gut zu lesen ist, und vielleicht vor allem für "Anfänger" einen hohen pädagogischen Wert hat.

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